Entdeckungsfreude, Liebe und Zuversicht im Doppelpack

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Die Zwillingsschwestern Sophia und Leonie Misteli sprühen nur so vor Neugier und Lebensfreude. Dabei lassen sie sich auch von ihrer cerebralen Bewegungsbeeinträchtigung nicht ausbremsen – mit der liebevollen Unterstützung ihrer Eltern Fabienne und Martin Misteli wachsen die Schwestern immer wieder über sich selbst hinaus und entdecken gemeinsam die Welt.

 

Die solothurnische Gemeinde Aeschi liegt eingebettet zwischen Wäldern und Feldern  rund eine Viertelstunde Autofahrt von der Stadt Solothurn entfernt. Der Frühling hat zwar noch nicht so richtig an Fahrt aufgenommen, trotzdem sind die Wiesen rund um das Dorf herum bereits gespickt mit bunten Frühlingsblumen. 
Das Haus der Familie Misteli steht in einer ruhigen Wohnstrasse, gleich gegenüber hat es einen Bauernhof. Auf der Weide scharren Hühner in der sonnenbeschienenen Erde, während die Kälbchen aufgeregt ihre Köpfe recken. Sie können es wohl kaum erwarten, nach der langen Winterpause endlich draussen auf der Wiese herumspringen zu dürfen. Der achtjährigen Sophia geht es ganz ähnlich. Sie kann kaum einen Moment still sitzen, viel lieber möchte sie überall gleichzeitig sein und ja nichts verpassen. Fröhlich plappernd wuselt sie durchs Haus.
Mama Fabienne Misteli schaut ihrer Tochter lächelnd hinterher. «Seit Sophia letzten Herbst laufen gelernt hat, ist sie kaum zu bremsen», erzählt sie, «Sie ist teils zwar noch etwas unsicher unterwegs, grundsätzlich macht sie es aber wirklich gut und ihre Begeisterung ist riesig.» Sophias Entdeckungsfreude fordert von den Eltern eine gehörige Portion Gelassenheit – kleine Blessuren gehören im Moment schon fast zur Tagesordnung. Vor einigen Tagen ist Sophia zum Beispiel gestürzt und hat sich dabei gehörig das Kinn aufgeschlagen. Fabienne Misteli, die selber als Pflegefachfrau HF auf der Intensivstation des Inselspitals in Bern arbeitet, wusste zum Glück ganz genau, wie sie richtig reagieren musste und konnte die Wunde schnell verarzten. Sie möchte ihre Kinder  keinesfalls in Watte packen, nur weil sie beeinträchtigt sind – sie sollen unbedingt eigene Erfahrungen sammeln dürfen.  
Sophias Zwillingsschwester Leonie kann noch nicht ohne Hilfe selber laufen. Das heisst aber nicht, dass sie deshalb weniger flink unterwegs wäre. Sie manövriert geschickt mit ihrer Kinder-Gehhilfe hinter ihrer Schwester her. Fabienne und Martin Misteli lachen: «Wenn Leonie bald auch noch selber laufen lernt, wird bei uns zu Hause wohl ganz schön etwas los sein!»

Ein ungutes Gefühl vor der Geburt
Als Fabienne Misteli mit ihren Zwillingen schwanger war, deutete eigentlich nichts darauf hin, dass mit den beiden Mädchen etwas nicht stimmen könnte. Trotzdem plagten die werdende Mama schon früh dunkle Vorahnungen, die sie gar nicht so richtig einordnen konnte. Fabienne Misteli: «Obwohl uns mehrfach versichert wurde, dass mit Sophia und Leonie alles in Ordnung sei, hatte ich doch ein ungutes Gefühl. Dass die beiden beeinträchtigt sein könnten, hätte ich trotzdem nie erwartet.» 
Sophia und Leonie kamen schliesslich rund acht Wochen zu früh zur Welt und mussten einige Wochen im Spital bleiben, bis sie ihre Eltern endlich nach Hause nehmen durften. «Anfangs schien wirklich alles in Ordnung zu sein», erinnert sich Martin Misteli, «die beiden Babys wirkten einfach sehr ruhig und schliefen viel.» 

Gründliche Abklärungen brachten die eindeutige Diagnose
Bald schon zeigten sich jedoch erste Zeichen einer möglichen Beeinträchtigung. Fabienne Misteli: «Leonie machte sehr seltsame Atemgeräusche und als dann schliesslich noch ein Augenzittern hinzukam, wurden sofort gründliche Abklärungen eingeleitet.» 
Ein MRI brachte schliesslich die Gewissheit, dass Leonie von einer cerebralen Bewegungsbeeinträchtigung betroffen ist. Dabei handelt es sich um das sogenannte Joubert-Syndrom, eine genetisch bedingte Entwicklungsstörung, die sich in ganz verschiedenen Ausprägungen und Krankheitsbildern zeigt. Martin Misteli: «Man konnte keinerlei Prognosen stellen, wie sich Leonie entwickeln würde. Beim Joubert-Syndrom gibt es sehr leichte, aber auch äusserst schwere Verläufe.» Bei Sophia waren die Zeichen zwar weit weniger deutlich, es wurde aber bald klar, dass auch sie vom Joubert-Syndrom betroffen ist. 

Nach vorne schauen anstatt zurück
Für die jungen Eltern war die Gewissheit, dass ihre beiden Zwillingsmädchen beeinträchtigt sind, ein schwerer Schock. «Wir waren am Boden zerstört und mussten diesen Schicksalsschlag zuerst verdauen», erzählt Fabienne Misteli, «wenn ich heute zurückschaue, finde ich aber, dass wir uns relativ schnell wieder gefasst haben.» Ihr Mann Martin Misteli nickt: «Die Situation wurde ja nicht besser, wenn wir uns in Selbstmitleid verloren. Uns schien es wichtiger, nach vorne zu schauen und unseren beiden Mädchen ein Zuhause zu bieten, wo sie geliebt und gefördert werden – und zwar genau so, wie sie sind.»
Diese tiefe Liebe und Verbundenheit ist gut sichtbar, wenn man der Familie Misteli im Alltag zuschaut. Sophia und Leonie haben sich zu zwei wunderbaren Mädchen entwickelt, die mit ihrer freundlichen und vertrauensvollen Art jedes Herz im Sturm erobern. Mit viel Lebensfreude und einer gehörigen Portion Schabernack entdecken sie Schritt für Schritt die Welt für sich. 
Fabienne und Martin Misteli nehmen jeden Entwicklungsschritt ihrer Töchter  wie ein grosses Geschenk an. «Das Leben mit einem beeinträchtigten Kind ist ein bisschen wie eine Wundertüte», sinniert Fabienne Misteli, «man weiss im Voraus nie so genau, was einem genau erwartet, und doch darf man immer wieder unglaublich schöne Momente erleben, in denen eigentlich unmöglich Scheinendes dann eben doch möglich wird. Sophia und Leonie sind schon oft ganz unverhofft über sich selbst hinausgewachsen.»
Die Mistelis sind überaus dankbar, dass ihre beiden Töchter bis jetzt vor schweren  Komplikationen wie zum Beispiel Epilepsie verschont geblieben sind.

Die ganze Familie hilft mit
Sehr wertvoll ist für Fabienne und Martin Misteli ihr gutes Umfeld. Martin Misteli ist in Aeschi aufgewachsen und führt inzwischen eine eigene Haustechnikfirma im Dorf. Seine Eltern und auch die Geschwister leben ebenfalls hier. Der Zusammenhalt und die Hilfsbereitschaft sind riesig. «Seit unsere beiden Töchter auf der Welt sind, haben wir uns immer auf die Unterstützung unserer Angehörigen verlassen können», erzählt Fabienne Misteli, «wenn ich kurz weg muss oder einmal etwas Zeit für mich brauche, genügt ein Anruf oder eine Nachricht im gemeinsamen Chat und schon meldet sich jemand, der auf Sophia und Leonie aufpasst. Das ist für uns als Eltern eine riesige Entlastung.» 
Sophia und Leonie Misteli besuchen seit dem Kindergarten die Tagesschule des Zentrums für Kinder mit Sinnes- und Körperbeeinträchtigung (ZKSK) in Solothurn. Dort erhalten sie auch alle ihre Therapien. Sophia und Leonie fühlen sich sehr wohl im ZKSK. Sie geniessen die Zeit mit ihren Schulgspänli und den Umstand, dass jeder Tag viel Neues mit sich bringt, das erlebt und entdeckt werden will. 

Die Kommunikation ist bedeutend einfacher geworden
Weil heute die Frühlingssonne so schön scheint, setzt sich die Familie für den Zvieri in den Garten. Leonie angelt sich einen Apfelschnitz und kaut genüsslich, während Sophia mit einem Leuchten in den Augen erzählt, dass sie am nächsten Tag mit der ganzen Klasse in den Wald gehen darf. Darauf freut sie sich sehr. Wer Sophia und Leonie noch nicht so gut kennt, hat teils etwas Mühe, die beiden Mädchen zu verstehen – auch wenn sie sich wirklich Mühe geben beim Sprechen. Mama Fabienne und Papa Martin Misteli springen gerne ein und helfen – für sie ist die teils undeutliche Aussprache der Kinder längst zur Gewohnheit geworden. Fabienne Misteli: «Wir sind sehr dankbar dafür, dass die beiden überhaupt so gut sprechen gelernt haben. Der Alltag wird  einfacher, wenn die Kinder selber sagen können, wie sie sich fühlen oder was sie möchten.» 
Sophia hat ihrer Mama aufmerksam zugehört und sagt leise: «Mama, ich habe Dich sehr lieb.» Diese Worte bedürfen keinerlei Übersetzung – sie gehen allen am Tisch direkt ins Herz. 

Hilfe für die Familie Misteli
Die Familie Misteli ist schon seit einigen Jahren bei der Stiftung Cerebral angemeldet und wurde auch schon mehrfach unterstützt. So zum Beispiel mit Beiträgen fürs Dualskifahren. Fabienne und Martin Misteli sind selber leidenschaftliche Wintersportler und freuen sich sehr, dass durch die Unterstützung der Stiftung Cerebral auch gemeinsame Skiferien mit Sophia und Leonie möglich sind. 
Eine sehr bereichernde Erfahrung und grosse Entlastung waren für die Mistelis auch die von der Stiftung Cerebral vermittelten angehenden Pflegefachfrauen HF, die bei der Familie ein Praktikum absolvierten. Insgesamt stellten sich die Mistelis bis zum Kindergarteneintritt von Sophia und Leonie viermal für solche Praktikas zur Verfügung. Zu allen vier Praktikanntinnen pflegt die Familie bis heute den Kontakt – aus den Praktikas sind längst schöne Freundschaften geworden. Wir werden Ihnen gerne in einer der nächsten Ausgaben einen tieferen Einblick in diese Familienpraktikas vermitteln.  
 

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