«Die Pflegenden müssen zuerst lernen, mit der besonderen Situation umzugehen»
Wir arbeiten seit vielen Jahren mit dem Berufs- und Weiterbildungszentrum für Gesundheits- und Sozialberufe St.Gallen (BZGS) zusammen. Gemeinsam vermitteln wir Praktikumsplätze bei Familien mit einem cerebral bewegungsbeeinträchtigten Kind an angehende Pflegefachpersonen. Christina Ruinatscha und Gaby Pavone vom BZGS erklären, warum diese Praktika so wichtig sind und wie die Zusammenarbeit genau aussieht.

Was ist anders, wenn sich ein Kind mit einer Beeinträchtigung in Spitalpflege begeben muss?
Christina Ruinatscha: Ein Kind mit einer Beeinträchtigung ist in erster Linie ein Kind, welches wie alle anderen Kinder individuell und seinen Bedürfnissen entsprechend im Spital betreut werden soll. Oftmals sind die Rahmenbedingungen bei einem Kind mit einer Beeinträchigung aber anders, und das gilt es zu berücksichtigen.
So kann es beispielsweise sein, dass das betroffene Kind nur über eingeschränkte Fähigkeiten zur sprachlichen Kommunikation verfügt und deshalb nur schwer ausdrücken kann, ob es Schmerzen oder Angst hat. Hier muss die Pflegefachperson unter Einbezug der Eltern ihre Kommunikation anpassen, beziehungsweise Hilfsmittel wie Piktogramme, eine Talker (elektronisches Hilfsgerät) und die averbale Kommunikation nutzen.
Gaby Pavone: Hinzu kommt, dass Kinder mit einer Beeinträchtigung häufig sehr empfindlich auf fremde Personen, Umgebungen und veränderte Routinen reagieren. Deshalb kann ein Spitalaufenthalt zu einer grossen Belastung werden. Hier ist es wichtig, Rituale und Gewohnheiten von daheim zu übernehmen und die Pflege so zu planen, dass das Kind nicht ständig von anderen Pflegenden betreut wird, sondern bezüglich der Betreuungspersonen eine Kontinuität besteht.
Die Eltern kennen die individuellen Bedürfnisse der Kinder sehr genau. Sie sind die Experten in der Betreuung ihrer Kinder. Dies ist in der Pflege eines Kindes mit einer Beeinträchtigung eine wertvolle Ressource. Deshalb ist es wichtig, dass die Eltern in der Betreuung ihres Kindes von Anfang an eingebunden werden.
Christina Ruinatscha: Ein Kind mit einer Beeinträchtigung hat meistens eine lange Krankheitsgeschichte mit verschiedenen chronischen Einschränkungen. Das macht die Pflege zeitintensiver. Oft ist das Kind auch auf Hilfsmittel angewiesen. Das setzt eine gute Kommunikation und Zusammenarbeit von Arzt, Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie und Eltern voraus.
Welchen Herausforderungen müssen sich die Pflegefachpersonen HF in solchen Fällen stellen?
Christina Ruinatscha: Die Pflege von beeinträchtigten Kindern und ihren Eltern ist beziehungsorientiert und komplex. Das gilt nicht nur im Spital, sondern generell in der Betreuung von Kindern mit einer Beeinträchtigung – also auch wenn sich beispielsweise eine Pflegefachperson von der Spitex zu Hause um ein betroffenes Kind kümmert.
Die Betreuung verlangt neben pflegerischem Fachwissen auch kommunikative, emotionale und organisatorische Kompetenzen. Die Pflegefachperson muss zum Beispiel auch nonverbale Signale erfassen und deuten können – das erfordert viel Feingefühl.
Gaby Pavone: Ein wichtiger Aspekt ist sicherlich auch der höhere Aufwand, der bei der Pflege eines beeinträchtigten Kindes im Spital berücksichtigt werden muss. Körperpflege, Mobilisation, Aktivierung und Beschäftigung oder Nahrungsaufnahme – das alles braucht Zeit und die Pflegenden müssen hierfür das nötige Verständnis und die Geduld aufbringen.
Christina Ruinatscha: Wichtig ist, die Eltern als Experten in der Betreuung ihres Kindes zu betrachten und sie frühzeitig als Partner einzubinden. Ihr Wissen ist für die Pflege essenziell. Dabei sollte immer berücksichtigt werden, dass Eltern von Kindern mit einer Beeinträchtigung im Alltag Grosses leisten und durch einen Spitalaufenthalt oder durch einen akute Gesundheitsverschlechterung weiter belastet werden könnten. Dem muss unbedingt Rechnung getragen werden – auch das erfordert viel Einfühlungsvermögen.
Wie ist es zur Zusammenarbeit zwischen dem BZGS und der Stiftung Cerebral gekommen?
Gaby Pavone: Die Zusammenarbeit zwischen der Stiftung Cerebral und dem BZGS besteht bereits seit über 30 Jahren. Initiiert wurde sie von der damaligen Schule des Ostschweizer Kinderspitals, die sich erstmals dieser Thematik annahm. Bei der Stiftung Cerebral stiess ihr Anliegen auf offene Ohren. Gemeinsam wurden geeignete Familien gesucht, und schon bald durften die ersten Pflegefachpersonen in Ausbildung ihre Praktika bei Familien mit einem cerebral bewegungsbehinderten Kind absolvieren.
Seit die Schule des Ostschweizer Kinderspitals vor rund 25 Jahren geschlossen wurde, bietet das BZGS die Ausbildung zum Pflegefachfrau bezw. -mann HF an, und dabei wurden auch die Praktika bei den Familien übernommen. Mir persönlich macht die unkomplizierte Zusammenarbeit mit der Stiftung Cerebral sehr viel Freude. Ohne ihre Hilfe wäre es uns kaum möglich, solche Praktika anzubieten, denn wir hätten gar keinen Zugang zu betroffenen Familien.
Was ist das Ziel der durch die Stiftung Cerebral vermittelten Praktika?
Christina Ruinatscha: In erster Linie geht es darum, dass die Studierenden HF Pflege, welche die Betreuung von Kindern, Jugendlichen, Frau und Familie ((KJFF) als Schwerpunkt in ihrer Ausbildung gewählt haben, für die besonderen Bedürfnisse von Kindern mit einer Beeinträchtigung und deren Eltern sensibilisiert werden. Sie sollen durch ein zweiwöchiges Praktikum bei einer Familie, die Möglichkeit erhalten, durch aktive Mitarbeit einen Einblick in den realen Alltag zu erhalten. Durch ihren Einsatz soll zudem auch die Familie im Alltag entlastet werden.
Wie entsteht der Kontakt zu den Familien?
Christina Ruinatscha: Der Kontakt wird über die Stiftung Cerebral vermittelt. Sie informiert die bei ihr angemeldeten Familien mit einem cerebral bewegungsbeeinträchtigten Kind über die Möglichkeit für ein solches Praktikum. Eine wichtige Voraussetzung ist dabei, dass das Kind noch nicht zur Schule geht, sondern noch im Vorschulalter ist. Bei grösseren Kindern würde eine Teilnahme wenig Sinn machen, weil sie den Grossteil ihres Alltags nicht zu Hause, sondern in der Schule verbringen.
Wie sind die Praktika bei den teilnehmenden Familien aufgebaut? Wie laufen sie ab und was sind die Schwerpunkte?
Gaby Pavone: Der Einsatz dauert zwei Wochen und findet an im Voraus festgelegten Daten Ende November/Anfangs Dezember statt.
Durch das Praktikum sollen die angehenden Pflegefachpersonen HF im Zusammenleben mit der Familie erkennen, welche Auswirkungen eine Beeinträchtigung auf das Familienleben hat. Sie sollen lernen, ein Kind mit einer Beeinträchtigung in seiner Lebensgestaltung zu begleiten und zu fördern. Dies bedingt, dass die Studierenden HF Pflege während dieser Zeit, wenn möglich, bei den Familien wohnen.
Christina Ruinatscha: In der Schule werden die Pflegefachpersonen HF in Ausbildung auf Ihren Einsatz bei den Familien vorbereitet. Parallel nehmen sie einen ersten Kontakt mit den Familien auf, um ein Kennenlernen zur ermöglichen. Wichtig ist, dass gegenseitige Erwartungen geklärt werden können und die Studierenden aufzeigen können, welche Kompetenzen zur Betreuung des Kindes sie mitbringen und in welchen Bereichen sie eine Einführung benötigen.
Die Schwerpunkte sind, wie bereits erwähnt, der Einblick in den realen Alltag einer Familie mit einem Kind mit Beeinträchtigung und die Entlastung der Familie durch die Pflegefachperson HF in Ausbildung. Sie soll Förderungsmöglichkeiten und Pflegeinterventionen bei Kindern mit einer Beeinträchtigung anwenden lernen und ihre bereits erworbenen Erfahrungen und Kenntnisse weitergeben. Sie darf zur Entlastung der Eltern für kleinere Hausarbeiten und zur Beschäftigung der Geschwister zugezogen werden.
Welche Rückmeldungen erhalten Sie von den Pflegefachpersonen HF in Ausbildung?
Christina Ruinatscha: Die Studierenden erfahren das Praktikum als wichtige Bereicherung in ihrer Ausbildung. Sie äussern grossen Respekt vor der Leistung, welche die Familien erbringen und melden zurück, in dieser Zeit mehr Verständnis für diese «besonderen» Kinder und ihre Angehörigen entwickelt zu haben.
Gaby Pavone: Sehr geschätzt wird von den Studierenden auch, dass sie von den Familien so herzlich und offen aufgenommen und integriert werden und den Alltag mitgestalten dürfen. Berührend sind Rückmeldungen, in denen die Studierenden schildern, wie rasch sie von den Kindern ins Herz geschlossen wurden. Es ist auch schon oft vorgekommen, dass aus einem einmaligen Praktikum eine langjährige Freundschaft entstanden ist.
Wie reagieren die Familien auf die Pflegefachpersonen HF in Ausbildung?
Gaby Pavone: Die Reaktionen sind durchwegs offen und sehr positiv. Gerade Familien, die bereits einmal eine Pflegefachperson HF in Ausbildung für ein Praktikum bei sich hatten, freuen sich jeweils sehr auf die zwei Wochen. Der Einsatz wird geschätzt und als grosse Entlastung für den Familienalltag erlebt.